13.03.2024
Überblick über BNE
Mit der Idee der Gestaltung einer friedlichen und nachhaltigen Gesellschaft haben die Vereinten Nationen 2015 die globale Nachhaltigkeitsagenda verabschiedet. Darin finden sich 17 Ziele, die zusammenfassen, in welchen Bereichen eine nachhaltige Entwicklung gestärkt und festgesetzt werden soll (BNE-Portal 2023). Die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) bildet den Wertekern des Bildungsziels 4 und ist in Teilziel 4.7 näher erläutert:
„Bis 2030 sicherstellen, dass alle Lernenden die notwendigen Kenntnisse und Qualifikationen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung erwerben, unter anderem durch Bildung für nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Lebensweisen, Menschenrechte, Geschlechtergleichstellung, eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit, Weltbürgerschaft und die Wertschätzung kultureller Vielfalt und des Beitrags der Kultur zu nachhaltiger Entwicklung.“ (UNESCO 2022)
Mit BNE ist eine Bildung gemeint, die den Menschen zu einem zukunftsfähigen Denken und Handeln befähigt und dadurch den Individuen ermöglicht, die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Welt und in der Welt besser zu verstehen. Im Sinne des Konzeptes ist eine Entwicklung nachhaltig, wenn Menschen weltweit im Gegenwärtigen und Zukünftigen ein würdevolles Leben führen und ihre Bedürfnisse und Talente entfalten können unter der Berücksichtigung der planetaren Grenzen (BNE-Portal 2023).
Eine andere Form der Definition von BNE beschreibt Rieckmann. Demnach soll die BNE „die Individuen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einer nachhaltigen Entwicklung und mit der Komplexität der Unsicherheit sowie den Widersprüchen, die mit ihr verbunden sind, sowie zu einer aktiven Gestaltung der Prozesse einer nachhaltigen Entwicklung befähigen“ (Rieckmann 2017, S. 150 f.).
Es werden drei Dimensionen in den Fokus genommen: Ökologie, Ökonomie und Soziales. Sie sollen gleichwertig betrachtet werden und dabei die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und die intergenerationale Gerechtigkeit als Ziele verfolgen (vgl. Brosi 2021, S. 3). Die Gestaltungskompetenz gilt als eine der wichtigsten Schlüsselkompetenzen der BNE im deutschsprachigen Raum. Mit ihr wird die Fähigkeit bezeichnet, Wissen über eine sogenannte nachhaltige Entwicklung anzuwenden und Probleme von „nicht nachhaltiger Entwicklung“ erkennen zu können (Brosi 2021, S. 3).
Prinzipiell stellt BNE Konzepte und Ziele dar, die wichtige Herausforderungen und Bedürfnisse der Gegenwart und der Zukunft ansprechen, doch diese haben sich in historisch gewachsenen kolonialen und rassistischen Strukturen und Praktiken verankert: also in Systemen der Ausbeutung und imperialen Lebensweisen. Mignolo (2012) fordert in diesem Rahmen eine Dekolonisierung des Wissens, Denkens und Seins, um eurozentristische Erkenntnistheorien und Perspektiven zu dekolonisieren. Die Auseinandersetzung mit dem Thema aus einer machtkritischen Perspektive zeigt, dass die Bildung, die unsere Beziehung zu anderen Menschen und zur Umwelt radikal verändern möchte, sich für viele andere Stimmen und Weltansichten öffnen muss. Denn die Bildung für nachhaltige Entwicklung ist eurozentrisch und hat als Grundlage Richtlinien, die aus hegemonialen Institutionen, wie etwa der UNO stammen. Dies bestätigt sich zum Beispiel durch die zwei zentralen Begriffe der BNE, Nachhaltigkeit und Entwicklung, die aus einer dekolonialen Betrachtungsweise[1] hinterfragt werden.
Entwicklung
Entwicklung wird oft als etwas Positives und Erstrebenswertes gesehen: Eine stärkere Wirtschaft, mehr Technologie, bequemere Häuser, schnellere Verkehrsmittel, mehr Zugang zu unterschiedlichen Gütern und höhere Niveaus globaler Kommunikation sind Ziele von vielen Menschen und Regierungen. Jahrelang (seit dem Beginn des europäischen Kolonialismus, aber vor allem seit der Industriellen Revolution) verbreitete und institutionalisierte sich die Idee, dass Menschen und Länder den Fortschritt vorantreiben sollten. Je mehr Fortschritt, je mehr Entwicklung, desto erfolgreicher und glücklicher die Person oder die Bevölkerung. Dieses Konzept basiert auf dem kapitalistischen und rassistischen System, in dem die „Kommodifizierung aller Lebensbereich und sogar der Natur“ stattfindet (Wahren 2016, S. 12), und auf dem europäischen Wissenschaftsmodell.
Da so viele Menschen Entwicklung als positiv und wünschenswert empfinden, sagen wir, dass der Begriff eine hegemoniale Idee darstellt. Sie wird breit angenommen und wiederholt. Die sogenannte Entwicklung ist aber kein natürliches Konzept, sondern eine menschliche Erfindung. Es gibt Gruppen, die andere Maßstäbe und Ziele haben, um „Erfolg“ und „Glück“ zu evaluieren und zu erreichen. Diese Perspektiven werden aber durch die hegemoniale Ansicht zum Schweigen gebracht und allmählich vergessen.
Die Institutionalisierung der Entwicklung fand 1949 mit der Rede von Harry Truman statt, als er sein Amt als Präsident der Vereinigten Staaten antrat. Bei dieser Gelegenheit etablierte er den Begriff der „Unterentwicklung“, „in einem Kontext, indem er das, was er selbst als ‚alten Imperialismus‘ bezeichnete, hinter sich ließ, um in eine neue Phase der kapitalistischen Expansion einzutreten, in der diese Nation ihre Hegemonie zu konsolidieren suchte“ (Mota/ Sandoval 2016, S. 90). Die „Unterentwicklung“ bestimmter Länder wurde ab diesem Moment ausgenutzt, um Interventionen mittels technischer und finanzieller „Unterstützung“ der sogenannten „entwickelten Länder“ zu rechtfertigen. Deswegen sehen Theoretiker*innen der dekolonialen Studien die „Entwicklung“ als eine Kontinuität des Kolonialismus. Die Konzepte „Entwicklung“ und „Unterentwicklung“ wurden benutzt, um die Geschichte der Kolonialländer zu legitimieren. Die Konzepte „wurden als Diskurs und als vorherrschende Politik vom Globalen Norden allen anderen Ländern der Welt aufgezwungen und sind spezifische Begriffe einer Vorstellung der Dominanzgesellschaft, die davon ausgeht, dass die Entwicklung unbegrenzt weitergehen kann“ (ebd., S. 98) .
Die Idee der Entwicklung wird aus einer dekolonialen Perspektive kritisiert, weil sie ein Werkzeug des kolonialen Systems ist, das im 21. Jahrhundert fortgeführt wird und eine spezifische Weltansicht darstellt, die als einzige und einwandfrei wahrgenommen wird. Laut dieser Weltansicht ist das ökonomische Wachstum für alle Länder verpflichtend. Diese werden durch das Bruttoinlandsprodukt miteinander verglichen. Die Bevorzugung der Wirtschaft lässt andere Lebensweisen in den Hintergrund rücken. Das Verschwinden anderer Weltansichten kann als epistemische Gewalt verstanden werden (Lang 2021, S. 139), das heißt, dass das Wissen anderer Bevölkerungen und andere Arten des gesellschaftlichen Lebens entweder zerstört oder vergessen werden. Weiterhin kritisieren die dekolonialen Theoretiker*innen die Entwicklung, weil in dem System des ständigen Wirtschaftswachstums die Natur in erster Linie als Ressource gesehen wird.
Nachhaltige Entwicklung
Die Idee der Nachhaltigkeit ist eine Folge der Feststellung der Verbindung zwischen der Entwicklung und der Naturzerstörung. Nachhaltigkeit war erstmals 1972 das zentrale Thema der Weltumweltkonferenz in Stockholm (Mota/Sandoval 2016, S. 91). Doch löste die neue Politik die Probleme nicht: Die „nachhaltige Entwicklung“ ist eine „Zauberformel, um semantisch das Unvereinbare und das Unhaltbare zu vereinbaren […]. Die Vorstellung einer unbegrenzten Expansion, die sowohl dem Begriff des Wachstums als auch dem des Fortschritts und der ‚Entwicklung‘ zugrunde liegt, ist charakteristisch für das idealtypische Subjekt des modernen Kapitalismus“ (Lang 2021, S. 137). Hierdurch sehen die dekolonialen Autor*innen die „nachhaltige Entwicklung“ nicht als Lösung, sondern als die Vortäuschung einer Lösung (ebd.). Denn die Wirtschaft bleibt zuungunsten der Umwelt das Wichtigste (Mota/Sandoval 2016, S. 94). Demgemäß wird vorgeschlagen, dass nachhaltig produziert und konsumiert wird, aber nicht, dass die Produktion und der Konsum aufhören sollte (Wahren 2016, S. 14).
Der Indigene Vordenker Ailton Krenak ist ein großer Kritiker der aktuellen Verwendung des Begriffes Nachhaltigkeit. Seiner Meinung nach hat das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung“ schädliche Auswirkungen auf das Leben aller Wesen (Diversidades USP 2022, 01:40:33). Denn hinter der Vorstellung der „nachhaltigen Entwicklung“ bleibt die Überzeugung, dass die Erde etwas ist, das wir konsumieren dürfen. Laut Krenak wurde der Mythos der Nachhaltigkeit von den Großunternehmen und neoliberalen Regierungen schnell und opportunistisch aufgegriffen und hat sich verbreitet. Es ist ein Mythos, der nicht bestätigt werden muss, der aber das Potenzial hat, Ressourcen und Aktionen zu bewegen (ebd., 00:25:37). Diese mächtige Wirkung zeigt sich zum Beispiel in dem institutionellen Konzept einer Bildung für nachhaltige Entwicklung. Es handelt sich um eine Bildung, die den hegemonialen Anspruch der Entwicklung aufrechterhält. Indem sie das Siegel der Nachhaltigkeit beansprucht, stellt sich diese Bildung als emanzipatorisch und zukunftsorientiert dar. Sie schließt jedoch weiterhin dieselben Akteur*innen (und ihr Wissen) aus, deren Ausgrenzung und Ausbeutung die Grundlage für die gegenwärtig ungleiche Gesellschaft und ihre ökologische Krise sowie die Klimakrise bilden.
BNE hat wichtige und sinnvolle Prämissen, und ihre handlungsorientierte Logik kann junge Menschen empowern, um eine bessere Zukunft zu gestalten, besonders wenn sie kritisch-emanzipatorisch ausgerichtet ist. Sie ist jedoch zu kritisieren, weil sie sich Werkzeugen und Konzepten bedient, mit denen eine sozialökologisch transformierte, gerechte Gesellschaft nicht zu erreichen ist. Eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Weltansichten, Theorien und Vorschlägen kann in diesem Sinn ein effizienter Weg sein, um neue Umgangsformen mit der Welt zu lernen.
Im Hinblick auf die Vorstellung einer sozial-ökologischen Transformation ist auch das Bildungskonzept der Global Citizenship Education (GCE) nennenswert, das derzeit vor allem im anglo-amerikanischen Raum präsent ist (Sant et al. 2018). Es setzt sich mit kolonialen und rassistischen Verhältnissen der Gesellschaft auseinander und baut diese in Bildungsprozesse mit ein. Anstatt Inhalte zu vermitteln und Kompetenzen zu erwerben, geht es bei dekolonialer Bildung im Rahmen einer GCE um einen kreativen und gestalterischen Umgang mit Vielfalt, Pluralität, Komplexitäten, Paradoxien, Ambivalenzen und Unsicherheiten. Dabei soll vermieden werden, in Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht zu geraten (Andreotti 2021, S. 12 f.).
Bereits seit einigen Jahren organisieren feministische Frauen* in Lateinamerika eine Bewegung zur Verteidigung des Lebens. Diese Bewegung lehnt das eurozentristische Verständnis von Entwicklung als eine Bedrohung des Lebens ab und fordert eine „Umorientierung in Richtung Degrowth“ (Lang 2021, S. 132, 134). Darüber hinaus fordern Indigene Akteur*innen, wie beispielsweise David Coquehuanca, die Menschheit auf, die Modelle von Produktion und Konsum zu verändern und eine Beziehung zur Natur herzustellen, die sich von der Logik des Marktes, der Moderne und der Entwicklung entfernt (Wahren 2016, S. 16). Für diese Gruppen ist ein neues Modell der Entwicklung keine Lösung. Ganz im Gegenteil – es ist dringend notwendig, Alternativen für die Entwicklung zu finden. Eine Bildung, die frei von alten hegemonialen Konzepten ist, könnte dazu bedeutsam beitragen.
Literatur und Quellen
Andreotti, V. (2021): Depth education and the possibility of GCE otherwise. Globalisation, Societies and Education, 19(4), S. 496–509.
BNE-Portal (2022): Was ist BNE? Online: https://www.bne-portal.de/bne/de/einstieg/was-ist-bne/was-ist-bne.html
Brosi, A. (2021): Politische Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) – Stand der Beziehung. Online: https://transfer-politische-bildung.de/fileadmin/user_upload/Fotos/Transfermaterial/Brosi_2021_Polbil-und-BNE-Stand-der-Beziehung.pdf
Diversidades USP (2022, 19. August): Diversidades e Inclusão Social – Aula Extra – Mod. I DH – Mito da Sustentabilidade – Krenak. Online: https://www.youtube.com/watch?v=rirmTovEors
Laclau, E./Mouffe, C. (1991): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien: Passagen Verlag.
Lang, M. (2021): Simulación e irresponsabilidad: el ´desarrollo´frente a la crisis civilizatoria. Miradas críticas desde los feminismos y el pensamiento decolonial sobre los Objetivos de Desarrollo Sustentable y la erradicación de la pobreza. Gestión y Ambiente 24 (supl. 1). S. 131–152.
Mignolo, W. (2012): Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität (aus dem Spanischen übersetzt von J. Kastner & T. Waibel) (Original erschienen 2006: Deconialidad del ser y del saber). Wien: Verlag Turia + Kant.
Mota, L./Sandoval, E. (2016): La falacia del desarrollo sustentable, un análisis desde la teoría decolonial. Iberoamérica Social: revista-red de estudios sociales, VI, S. 89–104.
Rieckmann, M. (2017): Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Großen Transformation – Neue Perspektiven aus den Buen-Vivir- und Postwachstumsdiskursen. in: Emden, O./Jakubczyk, U./Kappes, B./Overwien, B. (Hrsg.): Mit Bildung die Welt verändern? Globales Lernen für eine nachhaltige Entwicklung. Berlin/Toronto, S. 147–159.
Sant, E./Davies, I./Shultz, L./Pashby, K. (2018): Global citizenship education. A critical introduction to key concepts and debates. London, England: Bloomsbury Academic.
UNESCO (2022): Bildung für nachhaltige Entwicklung. Online: https://www.unesco.de/bildung/bildung-fuer-nachhaltige-entwicklung
Wahren, J. (2016): La naturaleza en disputa en América Latina: la encrucijada civilizatoria entre el „desarrollo“ y el „buen vivir“ desde una mirada decolonial. Revista de Geografia. V. 33, No 3, S. 6–28.
[1]Die dekoloniale Theorie hat ihren Ursprung in Lateinamerika und beruht auf dem Grundsatz, dass die Moderne aus der Kolonisierung entstand, welche Europa zum weltweiten Machtzentrum machte. Die Kolonialzeit wiederum endete nicht, sondern dauert bis in die Gegenwart an. Daher kommt die Vorstellung, dass wir seit dem 15. Jahrhundert in der Modernität/Kolonialität leben. Dekoloniale Denker*innen wenden sich von der wissenschaftlichen Produktion des Globalen Nordens ab und produzieren aus einer südlichen Perspektive neues Wissen. Zu den wichtigsten Autor*innen der dekolonialen Theorie gehören Enrique Dussel, Aníbal Quijano und Walter Mignolo.
Leandra Postay und Sarah von Wintzingerode
Dr. Leandra Postay ist Literaturwissenschaftlerin und arbeitet als Bildungsreferentin bei der Fachstelle Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz (FARN).
Sarah-Luise von Wintzingerode ist Erziehungswissenschaftlerin und arbeitet als Referentin für Beratung und Dokumentation bei der Fachstelle Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz (FARN).
Dieser Artikel ist Teil unserer Handreichung Die extreme Rechte und Menschenfeindlichkeit in der Umweltbildung.