11.12.2024
Da stehe ich nun und staune über die Landschaft, die vor mir liegt: Die fernen Berge in allen Grüntönen, das klare Wasser eines stillen Sees, in dem sich der Himmel spiegelt, und der dunkelgoldene Sonnenuntergang beeindrucken mich.
Ich bin im Kaeng-Krachan-Nationalpark, Thailand. Die geschnitzten Buchstaben auf einem Schild verkünden stolz den Namen des Parks, und direkt darunter hält ein junges, verliebtes Paar den Moment in einem Selfie fest. Es ist alles sehr idyllisch, sieht aus wie auf einer Postkarte oder einem Instagram-Post. Wir befinden uns in einem bekannten Nationalpark und UNESCO-Welterbe: Wieso sollte es also anders sein?
„Nicht da... da!“ Kai, unser Begleiter, holt mich in die Realität zurück und zeigt auf eine Stelle am See. Mein Tagtraum zerbricht. „Dort haben sie Teile von Billys Leiche gefunden.“
Mit Billy meint er Pholachi „Billy“ Rakchongcharoen. Billy, ein Aktivist der indigenen Karen, verschwand im April 2014, nachdem er von Mitarbeitenden des Forstamtes verhaftet worden war, weil er Honig gesammelt hatte. Fünf Jahre später tauchten verkohlte Teile seines Schädels in einem Fass unter einer Brücke auf. Genau hier. Billy war gerade 30 Jahre alt, etwa so jung wie das Selfie-Paar.
Später lerne ich Billys Witwe kennen. Ihre Augen sind schwer vor Kummer als sie sagt: „Warum brauchen wir eine Welterbestätte auf dem Land unserer Vorfahren? Das bringt der Gemeinschaft keinerlei Vorteile, es nimmt uns nur etwas weg.“
Vertreibung im Namen des Naturschutzes
Es ist bittere Ironie: Hinter dieser Landschaft, diesem Naturschutzgebiet, das von der UNESCO für seinen „herausragenden Wert für die gesamte Menschheit“ gewürdigt wird, verbirgt sich eine Tragödie. Die eigentlichen Bewahrer*innen des Landes, das indigene Volk der Karen, zahlen den Preis dafür.
Die Karen praktizieren Wanderfeldbau – eine nachhaltige Form der Landwirtschaft, bei der sie kleine Parzellen abwechselnd bewirtschaften. Im Wesentlichen bereiten sie ein neues Gebiet für die Bepflanzung vor, indem sie kontrollierte Brände einsetzen, die den Boden anreichern und die Artenvielfalt erhöhen. Nach ein paar Jahren ziehen sie auf eine neue Parzelle um und beginnen den Prozess von neuem. All dies wird von Ritualen und Zeremonien begleitet, um die Erde, ihrer Versorgerin, zu ehren.
Doch seit der Kolonialzeit haben Naturschützer*innen, die sich dieser Harmonie nicht bewusst waren, die Methode als „Brandrodung“ verunglimpft. Im Jahr 1996 wurden die Karen aus Bang Kloi, Billys Dorf, unter dem Vorwand, das Naturschutzgebiet zu schützen, gewaltsam von ihrem Land vertrieben. Sie wehrten sich. Billy war einer der Kämpfenden, bis seine Stimme zum Schweigen gebracht wurde.
Es ist eines der zentralen Probleme des derzeit verbreiteten Naturschutzes: Indigene Völker werden als Eindringlinge in einer vermeintlich unberührten Natur betrachtet, obwohl sie dort seit Generationen leben. Naturschutzorganisationen und Regierungen reagieren darauf mit der Kriminalisierung ihrer Lebensweise – Wanderfeldbau, Honig sammeln, jagen – und mit der Vertreibung indigener Gemeinden im Namen der „Natur”.
Im Globalen Süden, insbesondere in Afrika, Asien und Südamerika, wurden bereits Millionen Menschen gezwungen, ihr Zuhause für Naturschutzgebiete zu verlassen. Dieser Landraub wird damit gerechtfertigt, dass westliche Naturschützer*innen angeblich besser wüssten, wie man die Natur schützt, als die lokale Bevölkerung. Doch diese Sichtweise ignoriert die tiefe Verbundenheit indigener Völker mit ihrer Umwelt und verkennt deren Wissen und Erfahrung darin, über einen langen Zeitraum eben diese Umwelt aktiv geschützt zu haben.
Erfolgloser Widerstand gegen die UNESCO
Inspiriert von Billy und seinem Großvater, dem unbeugsamen Karen Ko-ee, der nach lebenslangem Widerstand im Alter von – vermutlich – 107 Jahren starb, eroberten die Karen aus Bang Kloi 2020 ihr Gebiet zurück, nur um erneut gewaltsam vertrieben zu werden. Trotz dieser düsteren Geschichte und trotz der Appelle dreier UN-Sonderberichterstatter*innen (vgl. United Nations 2021), sich mit den Menschenrechtsverletzungen zu befassen, erklärte die UNESCO den Kaeng-Krachan-Waldkomplex einschließlich Bang Kloi im Jahr 2021 zum Weltnaturerbe. Die Auszeichnung erfolgte nach „natürlichen Kriterien“ – das Gebiet sei ein „bedeutender natürlicher Lebensraum für die In-situ-Erhaltung der biologischen Vielfalt“.1
Aber „natürlich“ ist das Gebiet nur für den kurzsichtigen Blick von UNESCO-Expert*innen, Naturschützer*innen und Tourist*innen. In Wirklichkeit wurden diese Landschaften seit Generationen von den indigenen Völkern gestaltet und gepflegt. Wie ein Karen-Mann sagte: „Sie sehen nur den Wald und die Tiere, aber nicht die Menschen. Sie sehen uns nicht. Das ist eine Art von Blindheit“. Eine andere Karen-Stimme fügte unverblümt hinzu: „Dass der Kaeng-Krachan-Waldkomplex zum Welterbe erklärt wurde, ist eine schwere Verletzung der Menschenrechte.“ Der Status des Welterbes hat zu mehr Schikanen, Verhaftungen und Einschränkungen geführt. Das Sammeln von Pilzen, ein einfacher Akt der Selbstversorgung, ist nun verboten.
Dies ist nicht nur eine thailändische Tragödie. Es ist eine globale Tragödie.
Untersuchungen haben Folter, Vergewaltigung und Tötung von Angehörigen indigener Völker in vielen „Naturwundern“, insbesondere in Asien und Afrika, dokumentiert (vgl. Flummerfelt 2022/Mukpo 2024/Survival International 2017/Rights and Resources Initiative 2016/van Beemen 2024). Diese Stätten, die für ihre Schönheit und ökologische Bedeutung gefeiert werden, werden für die Einheimischen zu Kriegsgebieten. Regierungen und Nichtregierungsorganisationen vertreiben mit dem Segen von Naturschützer*innen die indigene Bevölkerung und machen sie für die Zerstörung dessen verantwortlich, was sie lange Zeit geschützt haben.
Viele Regierungen suchen nach der Anerkennung, die solche „Naturwunder“ mit sich bringen: Sie bringt Prestige, Tourismus und Finanzmittel. Aber für die Vertriebenen ist es ein Albtraum.
Auf Reisen mit Survival, der globalen Bewegung für die Rechte indigener Völker, habe ich diese „Naturwunder“ gesehen. Die weiten Ebenen der Serengeti, die schattigen Regenwälder von Odzala im Kongo, die Tigerreservate Indiens, die Großartigkeit des Yosemite. Doch sie alle haben ein schreckliches Geheimnis. Die „unberührte“ Wildnis, die Tourist*innen bewundern, ist oft das Ergebnis von Blut, Schweiß und Tränen der indigenen Bewohner*innen. Diese Landschaften waren ihr Zuhause, das durch ihr Wissen und ihre Praktiken aufrechterhalten wurde, bis Außenstehende beschlossen, dass es sich um „wilde Natur“ handelt, die vor den Menschen geschützt werden muss, die sie am besten kennen. Das ist Kolonialismus, getarnt als Naturschutz.
Kolonialer Naturschutz
Tatsächlich ist der Naturschutz, wie wir ihn heute kennen, untrennbar mit Kolonialismus verbunden. Diese Verbindung zeigt sich besonders in der Art und Weise, wie Land genutzt, geschützt und verwaltet wird – und von wem. Obwohl Naturschutz als Gegenbewegung zur Zerstörung der Natur verstanden wird, trägt er koloniale und rassistische Strukturen weiter: Indigene Völker, die besten Kenner*innen ihrer Gebiete, werden von ihrem Land vertrieben, um Platz für das „Projekt Naturschutz” zu machen.
Naturschutz, wie wir ihn heute oft verstehen, nahm seinen Anfang im späten 19. Jahrhundert mit der Errichtung von Nationalparks in den USA. Diese Parks, wie etwa der Yosemite-Nationalpark, wurden als „Wildnis“ betrachtet – unberührte Natur, die vor menschlichem Einfluss geschützt werden musste. Doch diese Vorstellung von Wildnis ignorierte die Tatsache, dass indigene Völker diese Gebiete über Jahrhunderte nachhaltig bewirtschaftet hatten. Indigene Gemeinschaften im Yosemite-Gebiet nutzten Techniken wie kontrollierte Brände, um das Unterholz zu entfernen und die Wälder gesund zu halten. Sie pflanzten Bäume, um Eicheln für ihre Ernährung zu sichern, und jagten selektiv, um das ökologische Gleichgewicht zu wahren. Die Vertreibung dieser Völker aus ihrem Land für die Schaffung von Nationalparks ist ein frühes Beispiel für die koloniale Durchsetzung von Naturschutzprinzipien. Und sie ähnelt auf grausame Weise der Geschichte der Karen.
Die Idee von „Wildnis“, die im Naturschutz eine zentrale Rolle spielt, ist tief im Kolonialismus verwurzelt. Eine Landschaft, die von indigenen Völkern bewohnt, genutzt und verändert wurde, konnte – und kann – schließlich nur deshalb als „wild“, „natürlich“ oder „vom Menschen unberührt“ gelten, weil Indigene nicht als (gleichwertige) Menschen angesehen werden. Und der prägende Einfluss indigener Völker auf Landschaften kann nur deshalb immer noch ignoriert oder übersehen werden, weil er nicht den europäischen Vorstellungen und Erfahrungen von Landnutzung entspricht.
Studien zeigen, dass Menschen bereits vor 12.000 Jahren fast die gesamte Erdoberfläche beeinflusst haben (vgl. Max-Planck-Institut 2017). Dies gilt auch für Gebiete, die heute als „unberührte“ Natur gelten. Indigene Völker haben diese Landschaften seit Generationen nachhaltig bewirtschaftet und sie ist Teil ihrer Lebensgrundlage und Existenz. Wie der bekannte Yanomami-Sprecher Davi Kopenawa es zusammenfasste: „Die Natur ist nicht von uns getrennt. Wir sind in ihr, und sie ist in uns.“
Touristenziel statt Landrechte
Für viele indigene Völker wie die Karen verwandelt sich ihr Land, das zum Nationalpark oder zum Welterbe erklärt wurde, in ein fremdes Territorium, das nicht ihnen, sondern „allen Völkern der Welt“ gehört – vor allem zahlenden Tourist*innen.
Naturschutzorganisationen argumentieren häufig, dass der Schutz der Natur nicht nur im Interesse der lokalen Bevölkerung, sondern der gesamten Menschheit liegt. In Zeiten des Klimawandels und des Artensterbens wird der Naturschutz zur globalen Aufgabe, doch weil Naturschutz nie seine kolonialen Ideen abgelegt hat, hat dies fatale Folgen. Solange Naturschutz die Land- und Menschenrechte indigener Völker nicht anerkennt oder als Hindernis sieht, werden Naturschutzgebiete weiterhin zu Landraub führen. Und wenn Naturschützer*innen nicht die Expertise indigener Völker anerkennen, wird er an mangelndem Wissen über die Umwelt – Beispiel „Brandrodung“ – und lokaler Ablehnung scheitern.
Grenzen zwischen lokaler Bevölkerung und „Natur“
Ein weiteres koloniales Erbe im Naturschutz ist die Militarisierung von Schutzgebieten. Der Begriff „Festungsnaturschutz“ beschreibt den Ansatz, Naturschutzgebiete durch den Einsatz von Gewalt und militärische Mitteln zu verteidigen und abzugrenzen. In vielen Naturschutzgebieten Afrikas und Asiens sind Ranger*innen mit Schusswaffen ausgestattet, um Wilderei zu bekämpfen. Doch oft richtet sich diese Gewalt nicht gegen den kriminellen Wildtierhandel, sondern gegen die indigene Bevölkerung, die als Bedrohung für die Natur angesehen wird. Jäger*innen und Sammler*innen werden zu Wilderern.
Wir müssen dieses Naturschutz-Modell auf den Prüfstand stellen, so wie wir es mit anderen veralteten, ungerechten und schädlichen Ideen getan haben – Rassentrennung oder Ungleichheit der Geschlechter. Die wahren Beschützer*innen unseres gemeinsamen Naturerbes sind die indigenen Völker. Ihre Lebensweise ist nachhaltig und darauf ausgerichtet, für künftige Generationen zu sorgen. Wie eine Gruppe von Karen trotz jahrelanger Unterdrückung entschlossen erklärte: „Wenn wir heute nicht kämpfen, wird es keine Zukunft für unsere Kinder geben“.
Viele indigene Gemeinschaften haben bewiesen, dass sie die Natur effektiv schützen können, wenn ihre Landrechte anerkannt werden. In Brasilien beispielsweise sind indigene Territorien eine wirksame Barriere gegen Abholzung und Umweltzerstörung. Die Zusammenarbeit mit indigenen Völkern ist daher nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch eine Frage des Naturschutzes. Statt sie ins Visier zu nehmen müssen Naturschützer*innen die wahren Ursachen für den Verlust der Artenvielfalt angehen.
Angesichts der kolonialen Ideen im Naturschutzes ist es dringend notwendig, ihn zu dekolonisieren. Dies bedeutet, dass Naturschutzorganisationen und Regierungen indigene Rechte anerkennen und sicherstellen müssen, dass indigene Völker die Kontrolle über ihr Land behalten. Statt sie zu vertreiben, sollten sie als Landbesitzer*innen respektiert werden. Organisationen wie UNESCO müssen ihre Unterstützung für diese Art von Naturschutz aufgeben, der indigene Völker auslöscht, und damit beginnen, Stätten, in denen Menschenrechtsverletzungen vorkommen, von ihrer Welterbeliste zu streichen. Stiftungen, Unternehmen, Prominente und Regierungen müssen aufhören diese Art von Naturschutz mit ihrem Geld und ihren guten Namen zu fördern. Nur dann wird Naturschutz damit beginnen, sich zu dekolonialisieren und unseren Planeten wirklich zu schützen.
Das ist die dringliche Aufgabe, die Menschen wie Billy uns hinterlassen haben.
1 UNESCO, „The Criteria for Selection„ online abrufbar unter: https://whc.unesco.org/en/criteria/ abgerufen am 4. November 2024. Der Kaeng Krachan Forest Complex wurde unter dem Kriterium (x) zum Weltnaturerbe ernannt.
Literatur:
Flummerfelt, Robert (2022):To Purge the Forest by Force: Organized violence against Batwa in Kahuzi-Biega National Park. Online unter: https://minorityrights.org/resources/to-purge-the-forest-by-force-organized-violence-against-batwa-in-kahuzi-biega-national-park/ (letzter Zugriff: 04.11.2024)
Max-Planck-Institut (2017):Menschen verändern seit mindestens 45.000 Jahren die Tropenwälder. Online unter: https://www.shh.mpg.de/540430/tropical_forest_45000 (letzter Zugriff: 04.11.2024).
Mukpo, Ashoka (2024): US govt watchdog: Human rights still at risk in overseas conservation aid. Online unter https://news.mongabay.com/2024/09/us-govt-watchdog-human-rights-still-at-risk-in-overseas-conservation-aid (letzter Zugriff: 04.11.2024).
Rights and Resources Initiative (2016): Cornered by Protected Areas. Online unter: https://www.corneredbypas.com/ (letzter Zugriff: 04.11.2024).
Survival International (2017): Wie werden wir überleben? Die Zerstörung indigener Völker im Kongobecken durch den Naturschutz. Online unter: https://assets.survivalinternational.org/documents/1685/wie-werden-wir-ueberleben-de.pdf (letzter Zugriff: 04.11.2024).
United Nations 2021: Thailand: UN experts warn against heritage status for Kaeng Krachan national park. Online unter: https://www.ohchr.org/en/press-releases/2021/07/thailand-un-experts-warn-against-heritage-status-kaeng-krachan-national-park (letzter Zugriff: 04.11.2024).
van Beemen, Olivier (2024): Im Namen der Tiere. Wie eine NGO große Teile Afrikas beherrscht. C.H.Beck.
Zu den Autorinnen:
Fiore Longo ist Anthropologin und Referentin für Recherche und Advocacy bei Survival International, der globalen Bewegung für die Rechte indigener Völker. Sie ist außerdem Direktorin von Survival Frankreich und Spanien. Sie koordiniert die Kampagne „Naturschutz dekolonisieren“, für die sie zahlreiche Gemeinden in Afrika und Asien besucht hat, die im Namen des Naturschutzes mit Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sind.
Linda Poppe ist Politikwissenschaftlerin und Geschäftsführerin von Survival International in Deutschland. Sie ist Teil von Survivals Naturschutz-Kampagne und beschäftigt sie sich vor allem mit der Rolle, die Regierungen und Naturschutzverbände aus dem Globalen Norden bei Landraub und Gewalt in Naturschutzprojekten spielen.